Prozesse filmen. Deutsch-französische Perspektiven

Prozesse filmen. Deutsch-französische Perspektiven

Organisatoren
Caroline Moine, Université Paris-Saclay / Max-Planck-Institut für Bildungsforschung / Centre Marc Bloch, Berlin; Fabien Théofilakis, Université Paris 1 Panthéon Sorbonne – Centre d’histoire sociale des mondes contemporains / Centre Marc Bloch, Berlin
Ort
digital (Berlin)
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.05.2021 - 20.05.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Bérénice Zunino, Geschichte / civilisation allemande, Université de Franche-Comté, Besançon

In den letzten Jahren sind mehrere Studien und Forschungsprogramme über den Gebrauch von Fotoaufnahmen und Filmausschnitten bei Prozessen gegen Staatsverbrechen erschienen.1 Der Workshop zielte in deutsch-französischer Perspektive darauf ab, die Verwendung dieser Bilder und deren Auswirkung auf die Öffentlichkeit zu diskutieren. Er fungierte als Ergänzung zur Ausstellung „Prozesse filmen. Ein soziales Thema“, die vom 3. Mai bis zum 26. Juni 2021 im Institut français in Berlin gezeigt worden ist.2 Die Vorträge gingen auf verschiedene Prozesse ein – von den Nürnberger Prozessen über Prozesse gegen Täter des Völkermords an den Tutsi bis hin zum NSU-Prozess. Historiker:innen, Jurist:innen, Archivar:innen, aber auch Journalist:innen aus Deutschland und Frankreich setzten sich in drei Panels und in einer abschließenden Diskussion mit den politischen und juristischen Debatten über die audiovisuellen Aufzeichnungen von Prozessen, der besonderen Stellung der Zeugenaussagen, der Bedeutung des Archivmaterials für die Öffentlichkeit sowie dem Verhältnis von Justiz und Demokratie auseinander.

Ausgangspunkt des Workshops war die unterschiedliche Rechtslage und Wahrnehmung dieser Prozesse in Deutschland und Frankreich. Während das Badinter-Gesetz von 1985 die audiovisuellen Aufzeichnungen von Prozessen regelt – wie z.B. gegen Klaus Barbie (1987), im Zusammenhang mit der chilenischen Diktatur (2010) und mit dem Völkermord an den Tutsi in Ruanda (2016-2018) sowie zu den Pariser Terroranschlägen im Januar 2015 (2020) –, sind solche in der Bundesrepublik Deutschland seit 1964 nicht genehmigt, wobei der NSU-Prozess (2013-2018) einen gewissen Wendepunkt darstellte. Vor diesem Hintergrund zielte der Workshop darauf ab, zu hinterfragen, inwiefern die audiovisuellen Aufzeichnungen in mediengeschichtlicher Hinsicht einzigartige Quellen sind, die Aufschluss über diese Prozesse geben. Darüber hinaus wurden die Auswirkungen dieses Filmmaterials auf die Wahrnehmung dieser Prozesse in der Öffentlichkeit in beiden Ländern diskutiert.

ANNETTE WEINKE (Jena) ging auf die juristischen und politischen Debatten über die Regelung von Tonaufnahmen und audiovisuellen Aufzeichnungen bei Strafprozessen in der Bundesrepublik Deutschland ein. Nachdem sie einen kurzen Überblick über den Forschungsstand der kulturgeschichtlich beeinflussten Juristischen Zeitgeschichte und insbesondere des Ansatzes von Visual Justice gegeben hatte, erklärte sie, warum die Strafjuristen im Kontext des Kalten Krieges keine Ausnahmen beim Verbot von Ton- und Bildaufnahmen bei Strafprozessen genehmigt haben. Dabei hinterfragte sie die Diskurse der juristischen Akteure über die Ablehnung jeglicher Ton- und Bildaufnahmen bei Prozessen, die ihrer Meinung nach unreflektiert in die Geschichtsschreibung eingegangen seien. Das Aufnahmeverbot von 1964, das einen wichtigen Einschnitt in der Rechtsgeschichte bilde, sei in erster Linie auf die damalige Legitimitätskrise der Justiz im Kontext von Kontroversen um NS-Belastungen zurückzuführen.

Als Pendant dazu stellte CHRISTIAN DELAGE (Paris) die Gesetzgebung zu den audiovisuellen Aufzeichnungen von Prozessen in Frankreich vor, die vom Gesetz von 1954 über das Gesetz von 1985 bis hin zum Gesetz Perben II (2004) zunehmend gelockert wurde. Dabei wurden technische Fragen berücksichtigt, wie etwa der Platz der Kameras im Gerichtssaal, die den Prozessverlauf nicht stören sollen. Delage plädierte dafür, dass solche Strafprozesse einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden sollten. Audiovisuelle Aufzeichnungen von historisch bedeutenden Gerichtsprozessen seien wichtige Dokumente der Zeitgeschichte und historische Quellen, die es für die Nachwelt zu erhalten gelte.

Danach kam MATTHIAS KORTE (Berlin) auf die Geschichte der Aufzeichnung und Übertragung von Gerichtsverhandlungen in Deutschland vor und nach 1964 zu sprechen. Schon das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz aus dem Jahr 1877 sah eine öffentliche Kontrolle von Strafverfahren vor und schützte zugleich die Angeklagten vor Willkür. Mit den NS-Schauprozessen, die ein fester Bestandteil der NS-Filmpropaganda waren, sei es zu einem gewaltigen Bruch gekommen. In der Nachkriegszeit lösten die Aufarbeitung der NS-Zeit und die ersten in den Medien übertragenen Prozesse rechtspolitische Debatten über die Fernsehübertragung solcher Strafverfahren aus. Vor allem im sogenannten Strack-Prozess bezeichnete der Verteidiger des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt und späteren Präsidenten der EWG-Kommission Walter Hallstein das Filmen als „Hinrichtung“. Nach dem Verbot von 1964 wurden jedoch Ausnahmen geduldet: Zum Beispiel wurden (nur) Tonbandaufzeichnungen der Auschwitz-Prozesse und des Prozesses gegen Mitglieder der Rote Armee Fraktion zu dem einzigen Zweck erlaubt, das Gedächtnis des Gerichts zu stützen. Seit dem NSU-Prozess, der ein großes Interesse bei den Medien und der Öffentlichkeit weckte, wurde die Frage nach einer Übertragung (vor allem für die Pressevertreter) wieder rege diskutiert, was u.a. zum Gesetz zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Strafverfahren (EMöGG) vom 8. Oktober 2017 führte. Heute dürfen Prozesse ausschließlich zu wissenschaftlichen und historischen Zwecken aufgezeichnet werden. Eine Medienübertragung von Ton- und/oder Bildaufnahmen ist nicht gestattet; nur die Frage nach der Tonaufzeichnung von Strafverfahren für Verfahrenszwecke werde von Experten noch diskutiert.

FABIEN THÉOFILAKIS (Paris/Berlin) untersuchte die Strategie Adolf Eichmanns bei seinem Prozess in Jerusalem (1961). Das Filmmaterial ermögliche ein besseres Verständnis dieses Strafverfahrens und gebe Aufschluss über die visuelle Inszenierung des Angeklagten. Mit besonderer Berücksichtigung der „Eichmann-Kamera“ könne man sich in seine Strategie versetzen: Der ehemalige SS-Offizier wusste von dieser Mediatisierung Gebrauch zu machen, um sich vor der Weltöffentlichkeit als einfacher bürokratischer NS-Staatsfunktionär bzw. als „Schreibtischtäter“ darzustellen.

TIMOTHÉE BRUNET-LEFÈVRE (Paris) widmete sich den Prozessen von Octavien Ngenzi und Tito Barahira, zweier Bürgermeister der rwandischen Stadt Kabarondo, die in Frankreich wegen des Völkermords an den Tutsi angeklagt worden sind. Er legte den Fokus auf die aufgezeichneten Zeugnisse der Opfer und der Täter. Daraus ging hervor, dass die Aufzeichnungen Aufschluss über die Emotionen der Beteiligten geben, aber auch viele Lücken aufweisen. Daher entschloss sich Brunet-Lefèvre dafür, als Ergänzung zu den Aufzeichnungen Gespräche mit den Beteiligten zu führen.

Bei den Gerichtsverhandlungen zu den Pariser Anschlägen vom Januar 2015 hat ALEXIS COUROUSSÉ-VOLAT (Paris) die Rolle des Zeugenstands in den Filmaufnahmen aus dem Standpunkt der Pressezeichner Olivier Dangla, Benoît Peyrucq, Mathieu Boucheron und Elisabeth de Pourquery untersucht. Auch er hob die Mängel der audiovisuellen Aufzeichnungen hervor. Da die Kameraleute dazu verpflichtet seien, sich auf den Beteiligten zu fokussieren, der das Wort habe, gehe viel von dem, was im Gerichtssaal erfolge, verloren.

Die drei weiteren Vorträge gingen den Fragen nach dem Stellenwert von Archiven audiovisueller Aufzeichnungen sowie nach deren öffentlicher Zugänglichkeit nach. MARTINE SIN BLIMA-BARRU (Pierrefitte-sur-Seine) ging auf drei Definitionen des Archivs in Frankreich ein: Erstens sei das historische Archiv gemäß dem Badinter-Gesetz von 1985 für das Justizwesen geschaffen worden; zweitens diene das Archiv für das Kulturerbe ausschließlich wissenschaftlichen Zwecken; drittens plädiert sie für ein frei zugängliches Archiv, da Archivbestände fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses seien.

Dagegen waren die Film- und Tonbandaufnahmen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, wie von JOHANNES BEERMANN-SCHÖN (Frankfurt am Main) dargelegt, ausschließlich dazu bestimmt, das Gedächtnis der Richter – genauso wie Notizen – zu stützen. Der Publizist und Mitbegründer des Internationalen Ausschwitzkomitees Hermann Langbein, der für das Zustandekommen dieses Prozesses wesentlich gesorgt hatte und dort als Zeuge aufgetreten war, setzte sich mit Nachdruck für ihre Aufbewahrung ein.3

Schließlich ging PIERRE-JÉRÔME BISCARAT (Lyon) auf die Vorgeschichte des Badinter-Gesetzes von 1985 ein. Es ging auf den Willen des französischen Justizministers Robert Badinter zurück, den Barbie-Prozess in Lyon zu filmen. Auf Druck von Opfervereinigungen musste jedoch auf eine Live-Übertragung des Prozesses verzichtet werden. Stattdessen wurden die Aufzeichnungen archiviert und bildeten den Kern des 1992 gegründeten Centre de l’Histoire et de la Déportation de Lyon.

Anschließend diskutierten die Journalist:innen JACQUELINE HÉNARD, GISELA FRIEDRICHSEN und HERVÉ BRUSINI sowie der wissenschaftliche Mitarbeiter der Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz JAKOB MÜLLER die Auswirkungen gefilmter Strafprozesse auf die Medienberichterstattung und auf die Überlieferung an die Nachwelt. Über die Meinungsverschiedenheiten zwischen deutschen und französischen Vertreter:innen hinaus gingen daraus unterschiedliche Standpunkte hervor: Sie wohnten der Mediengattung – Pressewesen oder audiovisuellen Medien – inne oder waren auf die erfahrungsgeschichtliche und generationelle Kluft zwischen den Teilnehmer:innen zurückzuführen. Beispielsweise kam ein gewisses Misstrauen gegenüber den audiovisuellen Medien und der Bildgattung überhaupt zum Ausdruck. Betont wurde jedoch, dass diese audiovisuellen Aufzeichnungen ein Kernelement der historisch-politischen Bildung und ein Mittel zur Stärkung der Demokratie seien. Abschließend sprachen sich die Teilnehmer:innen für eine inklusive Geschichtspolitik aus, die die pädagogische und gesellschaftspolitische Bedeutung von gefilmten Prozessen in erster Linie für Schüler:innen mitberücksichtige. Diese ersten Ergebnisse haben schließlich die Notwendigkeit gezeigt, einen Dialog – auch über die deutsch-französische Perspektive hinaus – fortzusetzen, um neue Sichtweisen zu eröffnen.

Konferenzübersicht:

Empfang und Begrüßung

Jakob Vogel (Direktor des Centre Marc Bloch, Berlin), Bernard Ludwig (Attaché für Wissenschafts- und Hochschulkooperation der französischen Botschaft, Berlin), Béatrice Hérold (Leiterin der Abteilung für Digitalisierung und Konservierung der Archives nationales, Pierrefitte-sur-Seine), Julien Acquatella (Kommission für die Entschädigung der Opfer von Enteignungen CIVS, Paris)

Einführung

Caroline Moine (Université Paris-Saclay / Max-Planck-Institut für Bildungsforschung / Centre Marc Bloch, Berlin)

Panel 1 / Prozesse filmen: politische und juristische Debatten
Moderation: Guillaume Mouralis (Centre national de la recherche scientifique CNRS, Paris / Centre Marc Bloch, Berlin)

Annette Weinke (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Von „Freisler“ zum „NSU“: Überlegungen zu einer Medien- und Filmgeschichte politischer Strafprozesse und transnationaler Justiz in der Bundesrepublik

Christian Delage (Université Paris 8 / Institut d'Histoire du Temps Présent IHTP, Paris): Das Eindringen der Kamera in den Gerichtssaal von 1954 bis 2020: juristische, technische und gesellschaftliche Fragen

Matthias Korte (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Berlin): Aufzeichnung und Übertragung von Gerichtsverhandlungen – die deutsche Perspektive

Panel 2 / Zeugenaussagen filmen
Moderation: Thomas Lindenberger (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden)

Fabien Théofilakis (Université Paris 1 Panthéon Sorbonne – CHS / Centre Marc Bloch, Berlin): Zeugnis gegen die Geschichte: Adolf Eichmann vor der Kamera, Jerusalem 1961

Timothée Brunet-Lefèvre (École des hautes études en sciences sociales EHESS, Centre d’études sociologiques et politiques Raymond-Aron, Paris) : Der Rahmen der Zeugenaussagen in den Prozessen von Octavien Ngenzi und Tito Barahira (2016-2018)

Alexis Couroussé-Volat (Université Paris 8 / Institut d'Histoire du Temps Présent ITHP, Paris): Die Rolle des Zeugenstandes in den Filmaufnahmen der Gerichtsverhandlungen zu den Pariser Attentaten von Januar 2015 (2020)

Panel 3 / Prozesse filmen: welche Archive für welche Öffentlichkeit?
Moderation: Hélène Dumas (École des hautes études en sciences sociales EHESS, Paris)

Martine Sin Blima-Barru (Archives nationales, Pierrefitte-sur-Seine): Historische Archive, nationales Erbe und öffentliche Erinnerung: audiovisuelle Produktion von Gerichtsprozessen in Frankreich

Johannes Beermann-Schön (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main): Vom Überlieferungszufall zum Weltdokumentenerbe. Die Film- und Tonbandaufnahmen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses

Pierre-Jérôme Biscarat (chargé de mission à la Mémoire – Ville de Lyon): Wie haben die Bilder des Barbie-Prozesses die Erinnerungspolitik der Stadt Lyon verändert?

Diskussionsrunde / Gefilmte Prozesse: Zum Verhältnis von Justiz und Demokratie
Moderation: Jacqueline Hénard (Journalistin und Schriftstellerin)

Gisela Friedrichsen (Die Welt), Hervé Brusini (président du Prix Albert Londres), Jakob Müller (Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz)

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. bezüglich der Prozesse gegen NS-Verbrecher: Sylvie Lindeperg, Nuremberg. La bataille des images, Paris 2021 ; Fabien Théofilakis, Adolf Eichmann à Jérusalem ou le procès vu de la cage de verre (1961-1962), in: Vingtième siècle. Revue d’histoire 120 (2013), S. 71-85. Über die Staatsverbrechen in transnationaler Perspektive siehe u.a.: Christian Delage, Caught on camera. Film in the courtroom from the Nuremberg trials to the trials of the Khmer Rouge, englische Ausg. Philadelphia 2014 (1. Aufl. in französischer Sprache 2006) und Annette Weinke, Gewalt, Geschichte, Gerechtigkeit. Transnationale Debatten über deutsche Staatsverbrechen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. Christian Delage und Martine Sin Blima-Barru leiten auch das Forschungsprogramm „Die gefilmten Prozesse“, das zum französischen Cluster (LABEX) Les passés dans le présent gehört: http://passes-present.eu/fr/les-proces-filmes-une-memoire-vive-de-nuremberg-au-proces-du-13-novembre-2015-44343.
2 Diese Ausstellung, die derzeit im französischen Nationalarchiv gezeigt wird, wurde von Martine Sin Blima-Barru und Christian Delage konzipiert: https://www.archives-nationales.culture.gouv.fr/fr/web/guest/680. Zur Online-Vernissage am 19. Mai 2021 im Institut français in Berlin und zur Vorstellung dieser Ausstellung siehe: https://www.institutfrancais.de/berlin/event/prozesse-filmen-18049 und https://www.youtube.com/watch?v=Pskx8SQPaQQ.
3 Alle Tonbandmitschnitte sind heute online zugänglich : https://www.auschwitz-prozess.de/